Seidenstraße
Der 1877 von dem deutschen Geo-logen und Geographen Ferdinand Freiherr von Richthofen geprägte Begriff der >Seidenstraße< ist leicht irreführend, denn der 10 000 Kilo-meter lange Weg war nur teilweise befestigt wie eine Straße und folgte auch nicht immer nur einer Strecke. Der Großteil des Weges mußte auf Trampelpfaden, Wüstenpisten und durch Schlammfurten zurückgelegt werden.
Überfälle von Nomadenvölkern und Überschwemmungen oder Erdrutsche zwangen die Karawanen, immer neue Routen zu finden. Auch wurde nicht nur Seide auf dieser Strecke transportiert, sondern fast alles, was denkbar ist. Die Anfänge dieses interkontinentalen Fernhandels lassen sich auf das späte sechste Jahrhundert vor Christus datieren, als Seide auf einer nördlichen Route vom nördlichen Tienshan-Gebirge durch die asiatischen Teile der ehemaligen Sowjetunion bis zur Donmündung am Asowschen Meer und von dort aus nach Mitteleuropa gelangte. Hauptvermittler waren in der Zeit die Skythen, die, so zeigen es ihre Grabbeilagen, rege Handelsbeziehungen zu Griechen und Chinesen hatten. Bereits seit dem dritten Jahrtausend vor Christus stellten die Chinesen Seide her. Im Laufe der Zeit wurde die Seide zu einer Art Währung, rapider Beamte entlohnt, Pferde von Nomaden gekauft wurden und mit der das Wohlwollen der >Barbaren< erkauft werden sollte. So waren bald auch die Nomadenstämme im Besitz von Seide, deren Überschuß sie an westliche Völker auf der nördlichen Route weiterverkauften, bis die Seide schließlich nach Europa gelangte.
Nach der Einheit der Chinesen 221 vor Christus wurde die nördliche Route plötzlich aufgegeben. Dies mag mit den gewaltigen Völkerwanderungen, die in jener Zeit in diesem Gebiet stattfanden, zu tun gehabt haben, ist aber auch mit dem Machtzuwachs der Chinesen zu begründen. Die Chinesen wollten aktiver am Handel beteiligt sein, und es entstand die südliche, die klassische Seidenstraße. Begünstigend kam hinzu, daß sich das Abendreich durch Alexanders Feldzüge mit dem hellinistischen Königreich von Baktrien und Sogdien bis an die Grenze des Tienshan-Gebirges ausgedehnt hatte. Die südliche Route führte von Changan in Zentralchina in die westchinesische Provinz Gansu, teilte sich vor dem Tarimbecken in eine nördliche Strecke über Turfan und Aksu und eine südliche über Miran und Khotan, die beide in Kaschgar wieder zusammenliefen. Über die Gipfel des Pamir ging es weiter über Samarkand und Buchara oder Baktra nach Merw und Bagdad bis nach Palmyra in Syrien, dem Endpunkt der Seidenstraße. Hier wurden die Waren in den gesamten Mittelmeerraum verschifft. In der Zeit des Hellenismus war der internationale Fernhandel bereits sehr rege, denn es gab von Sizilien bis nach Fergana ein einheitliches Münzsystem. Außerdem existierte eine Oberschicht, die Bedarf an orientalischen Luxusgütern wie Seide, Diamanten und Rosenöl hatte. Das Goldene Zeitalter der Seidenstraße begann in der Römischen Kaiserzeit. Etwa zur Zeit der Alleinherrschaft Caesars wurden die Römer regelrecht süchtig nach Seidenstoffen. Damit auch das gemeine Volk an der Seideneuphorie teilhaben konnte, wurden mehrfach rein seidene Sonnensegel über dem Circus Maximus installiert. Der Preis für die Seide war immens: die Römer bezahlten die Chinesen nicht nur in klingender Münze, sondern auch mit Gold, Weihrauch, Glas, Wolle und Negersklaven, die im damaligen China sehr begehrt waren. Der Preis der Seide stieg immer mehr. Um 270 konnte sich zum Beispiel der Kaiser Aurealian kein Seidenkleid für seine Frau leisten, denn in jener Zeit mußte man für ein Pfund purpurgefärbter Seide so viel bezahlen, wie 6000 Landarbeiter an einem Tag verdienten.
Der Preis ließ sich nicht nur mit dem langen Transportweg erklären, schließlich mußte fast ein Viertel des gesamten Erdumfangs zurückgelegt werden, sondern hing auch mit der Steigerung des chinesischen Ausgangspreises zusammen. Außerdem wollten auch die an der Seidenstraße ansässigen Völker von dem Handel profitieren und erhoben Zölle. Teilweise mußten 36 Herrschaftsgebiete durchquert werden; dabei waren Zolle bis zu 25 Prozent keine Seltenheit. Besonders gerne blockierten die persischen Parther die Handelswege, um nach erneuter Öffnung noch höhere Preise fordern zu können. Eine Praxis allerdings, die die Römer nicht widerspruchslos hinnehmen wollten, und so versuchten sie, die fernöstlichen Waren auf dem Seeweg in ihr Reich zu bringen. Was allerdings keine wirkliche Alternative war, da die Ladekapazität der Schiffe vergleichsweise gering war und durch Schiffbruch oder Piratenüberfälle häufig empfindliche Verluste entstanden. Im Jahre 100 vor Christus berichtete eine chinesische Quelle, daß zwölf große Seidenkarawanen das Reich der Mitte verlassen hätten. Neben diesen offiziellen Karawanen gab es allerdings noch private Händler, und so hieß es in einer anderen Quelle: Das Karawanennetz war so dicht geknüpft, daß sich ihre einzelnen Glieder nie aus den Augen verloren. Auch wenn diese Schilderung etwas übertrieben sein mag, sicher ist, daß auf der Seidenstraße reger Verkehr herrschte. Die Größe der Karawanen variierte. Häufig waren um die hundert menschliche Begleiter und mehrere hundert Lasttiere in einer Karawane. Mit 150 Kilogramm konnte ein Kamel für einen zwölftägigen Marsch beladen werden. Die Karawanenführer waren meist keine Chinesen, sondern Sogdier oder Parther. Für die Hin- und Rückreise benötigte man sechs bis acht Jahre; befestigte Straßen gab es nur auf chinesischem und römischem Boden, es war also eine mörderische Reise. Ein chinesischer Augenzeuge berichtet von der Überquerung des bei Fergana gelegen.
Eisernen Bergs<: »Dieser Berg ist steil und gefährlich und ragt bis in die Wolken. Seine Gletscher schmelzen weder im Winter noch im Sommer. Wenn man sie anschaut, erblindet das Auge wegen des gleißenden Lichtes, so daß man nicht lange darauf blicken kann. Schnee liegt zuweilen quer über der Straße, manchmal ist er zehn Fuß (über drei Meter) hoch. Wegen der Winde und des von ihnen aufgewirbelten Schnees ist es schwierig, den Körper vor der herrschenden Kälte zu schützen, obwohl er in mehrere aus Fell gefertigte Gewänder gewickelt ist. Wenn man essen oder schlafen will, so gibt es keinen trockenen Platz, wo man es aushalten könnte. Nach sieben Tagen kamen sie über den Berg hinüber. Zwölf oder vierzehn Mann von der Reisegesellschaft waren verhungert oder erfroren, während die Zahl der Ochsen und Pferde noch größer war.« Neben den klimatischen und geographischen Schwierigkeiten machten auch die ständigen Überfalle das Unternehmen gefährlich. Nicht nur Wegelagerer, sondern auch Nomadenfürsten störten den Weg der Karawanen. Mehrfache chinesische Strafexpeditionen machten dem Raubrittertum jedoch ein Ende.
Im Jahre 420 schmuggelte eine chinesische Prinzessin bei ihrer Hochzeit Eier der Seidenraupe aus dem Reich der Mitte heraus. Damit war das chinesische Seidenmonopol beendet, und Seidenstoffe entstanden auch in Persien, Indien und Byzanz. Sogar irn Ursprungsland der Seide wurden bald auch importierte Stoffe getragen. Das Ende des Seidenmonopols war keineswegs das Ende der Seidenstraße, auf ihr blühte der Handel weiter. Der Bedarf an Parfüms, Perlen, Keramik, Metallen, Weihrauch und Gewürzen war weiterhin enorm. Hinzu kam der Austausch geistiger Güter. Auch Missionare, Priester und Mönche zogen die Seidenstraße entlang. Die erste Religion, die sich entlang der Seidenstraße verbreitete, warder Buddhismus. Im vierten Jahrhundert war es die Erlösungslehre des persischen Religionsstifters Mahni, die auf der Seidenstraße bis ins römische Reich drang und später über Turkestan nach China gelangte. Aber auch Naturreligionen waren präsent. Dokumente belegen die allgemeine Toleranz, die auf der Seidenstraße herrschte und dazu führte, daß alle Bekenntnisse gleichzeitig nebeneinander existieren konnten.
Der weite Raum zwischen China und Europa glich einem Ozean mit anrollenden und sich zurückziehenden Menschenmassen. Völker kamen und gingen. Große Reiche entstanden und zerfielen. Bestehen blieben, trotz des Wirrwarrs der unterschiedlichen territorialen Besitztümer, die Städte entlang der Seidenstraße. Durch den jahrhundertelangen Handel entstand in ihnen, trotz regionaler Besonderheiten, eine einheitliche, durch eben diesen Handel geprägte Kultur. Ob in Turfan, Samarkand oder Palmyra, überall fand sich ein ähnliches Bild: der Wohlstand war im Stadtbild deutlich sichtbar. Die Karawansereien und Basare hatten internationales Flair, hier tummelten sich Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern. Die Karawanenhändler genossen, nach den entbehrungsreichen Wochen und Monaten auf der Seidenstraße, in den Städten die angenehmen Seiten des Lebens. 642 zerschlugen die Araber das persische Sassanidenreich, damit begann die Ausdehnung des Islams nach Osten, was letztlich das Ende der Seidenstraße bedeutete. 751 erlitten die Chinesen ihre ersten Niederlage gegen ein muslimisches Heer. Zwar blühte auch danach der Handel zwischen Abend- und Morgenland, aber die Welt der Seidenstraße hatte sich durch das Vordringen des Islams stark verändert. Religiöse Toleranz gab es nicht mehr, und kaum ein Europäer gelangte mehr in das Innere Asiens. Marco Polo war eine der wenigen Ausnahmen. Nach dem Fall von Konstantinopel war der Weg über die alte Handelsroute endgültig versperrt. In Europa suchte man neue Länder und andere exotische Güter. Das Zeitalter der Entdeckungen ließ die Seidenstraße, die über Jahrhunderte den Mittelmeerraum mit dem Fernen Osten verbunden hatte, in Vergessenheit geraten.